Carsten Nicolai
kosmos + turm
18. September 1998 - 18. Oktober 1998
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Carsten Nicolai (geb. 1965 in Karl-Marx-Stadt) - vielleicht bekannter in Kreisen "bildnerischer" Objekt- und Installationskunst - experimentiert bereits seit 1993 mit akustischem Material. Der Anlaß damals: eine CD für den Katalog einer Ausstellung. Er selbst äußert, daß von da an ein Großteil seiner Arbeiten von musikalischen Interessen geleitet ist (DE:BUG.14.0898).
Nicolai generiert sein akustisches Material aus den Impulsströmen digitaler Kommunikationstechnik (Telefon, Fax, Modem etc.). Hörbar werden wundersame Proben aus dem Klangarchiv des Telekommunikationszeitalters. Man begegnet minimalistischen Klangstrukturen, die Graphisches assoziieren, aber die Frage unbeantwortet läßt, ob die Arbeiten nun "visuellen" oder eher "musikalischen Prinzipien" folgen.

In der singuhr-hoergalerie wird ein Teil seiner aktuellen Arbeiten - ein Objekttisch mit vier eingebauten Plattenspielern - ausgestellt.  Das akustische Material ist nur insofern vorgegeben, als daß Nicolai vier 10-Inch-Vinyle mit digitalen Impulstönen seiner Auswahl für die Plattenteller produziert hat. Die Besucher können an der Versuchsanordnung herumlaborieren; mittels der bekannten Techniken des "scratchens", der Veränderung der Rotationsgeschwindigkeit, der Verlagerung des Vinyl-Mittelpunktes, der pitch-Funktion und der Entscheidung, welches Vinyl über-haupt Elektrizität bzw. keine bekommt.


Solche Formen künstlerischer Versuchsanordnungen bewegen sich in den Grenzzonen zwischen Mensch und Maschine. Sosehr Nicolai sich dabei auf die Medien und Apparaturen der digitalen Informationsvermittlung bezieht, betreibt er mittels Ele-mentarisierung der technologischen Strukturen auch ihre Entmystifizierung.
Die Arbeiten mit akustischen Elementarteilchen (spins, kerne, loops) veröffentlicht Nicolai seit 1994 auf seinem eigenen Label "noton". Die so dokumentierten Klangar-beiten sind mittlerweile selbstverständlicher Bestandteil seiner Ausstellungsprojekte (u.a. Galerie Eigen+Art/Leipzig und Berlin, Galerie Springer Berlin, Titanik Gallery Turku, Goethe-Institut Palermo, Leonardi Museum Dresden, New York Kunsthalle, dokumenta X Kassel, Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig).
"Virilio identifiziert die Verflachung erfahrener Zeit mit der Zunahme elektronischer Prozesse und Kommunikationsformen. Durch den Diebstahl der göttlichen Elektrizität, so wie Prometheus einst das Feuer stahl, hat die Zivilisation Zugang zum Geheimnis gewonnen, Zeit in Licht unzuwandeln, muß aber dafür den ewig schmerzvollen Verlust ihres Sinnes für Perspektive erleiden, der sie vom Horizont abtrennt und ihr Gefühl für die Bewegung im Raum abstumpft.
Die Klangarbeiten von Carsten Nicolai konfrontieren den Betrachter - und Hörer mit dem von Virilio angedeuteten Widerspruch zwischen Elektrizität und Elektronik. Elektronik gibt es nur vorverpackt, sie zähmt die rohe Kraft natürlicher Elektrizität, indem sie den direkten Strom in Wechselstrom transformiert und für die Entnahme durch Mikrochips im minitariusierten Bauteilen passend komprimiert. Die Elektronik macht die Elektrizität marktgerecht und verdinglicht ihre Kraft durch die endlose Verbreitung elektronischer Waren. Der Markt erzwingt Standardisierung, und das gilt gleichermaßen für Waschmaschinen und kulturelle Güter wie CDs und Schallplatten aus Vinyl. Brian Eno hat kürzlich den Mangel an Ausdrucksmöglichkeit beklagt, unter dem der moderne Musiker insofern leidet, als sein Musikstück, ganz gleich wie unkonventionell, obskur, experimentell oder arbeitsuntensiv die Aufnahme auch sein mag, immer als CD verpackt endet - im gleichen Plastikschmuckkästchen wie Tausende anderer. So setzt sich die verkürzende Funktion der Elektronik durch die Herstellungs- und Vertriebsketten bis ins Reproduktionsformat fort."

Rob Young
Mit Unterstützung der Ev. Georgen-Parochialgemeinde, der INITIATIVE NEUE MUSIK BERLIN e. V., des Elektronischen Studios der TU-Berlin. Über das Forum KlangKunst 1998 gefördert durch das Programm Kaleidoskop der Europoäischen Kommission. Besonderer Dank an Contrib.Net, noton.archiv für ton und nichtton tripple AAA, cyan.